LILLIAN SCHACHERL
IN BILDER AN DER GRENZE DES SAGBAREN
ZU DEN „ARBEITEN AUF BÜTTEN“

 

 

„Die Farben“ sagte Goethe in seiner Farbenlehre, „sind Taten des Lichts, Taten und Leiden“. Mag auch Goethes Farbenlehre weitgehend widerlegt sein – die poetische Schönheit dieses Satzes leuchtet wie eh und je. Und wie begeistert wäre der stets zukunftsneugierige Dichter gewesen, zu erleben, welche unumschränkte Autonomie die Farben in unserer Zeit in der Malerei gewonnen haben!

 

Der Maler Manfred Mayerle ist einer, der ihre Autonomie immer von neuem in allen Gattungen seiner Arbeit auslotet. Da er ein vielseitiger Künstler ist, reicht deren Skala von Wandgestaltungen über Tafelbilder, Kohle- und Farbzeichnungen, bis zu originellen Tippex-Miniaturen. Vieles davon ist in seine wunderschönen Künstlerbücher eingegangen, die einen guten Überblick über seine einzelnen Schaffensperioden geben können. Sie lassen erkennen, dass seine ganz dem „Augenblick“ im buchstäblichen Sinne gewidmeten Form- und Farbphantasien sich im Laufe der Zeit vom ausbündig Spielerischen zu immer subtilerer Konzentration verdichtet haben. Das Spielerische ist zur Poesie geronnen.

 

„Arbeiten auf Papier“ nennt der Künstler seine hier versammelten Exponate lakonisch. Was eher nach Zeichnungen klingt, sind indessen intensivfarbige Malereien, und das Papier ist handgeschöpftes Bütten mit weichen, saugfähigen, haptischen Oberflächen. Anders als die strengen und glatten „Roten Bilder“ auf Leinwand aus dem Jahre 2005, strahlen diese im einzelnen monochrom erscheinenden, in ihrer Abfolge aber wechselnd farbigen „Arbeiten auf Papier“ eine heitere Sinnlichkeit aus.

 

Entstanden in einem langwierigen und komplizierten Prozess, den allein schon die Zurichtung des Papieres erfordert, bevor die malerische Gestaltung einsetzen kann, leuchten sie in Zinnober-, Caput mortuum, oder Kadmium-Rot, in Ultramarin- oder Kobaltblau, in Violett oder Elfenbeinweiß. Hochrechteckig im Format, wird jedes der Bilder horizontal durchlaufen von einem breiten Band oder von zwei, drei schmalen Frequenzen: zart aufgehellten Farbstreifen, die edel wie Randleisten in spätmittelalterlichen Miniaturen anmuten können, dann wiederum wie Buchstabenreihen aufmarschieren, anderswo wie Hürden im Farbkontinuum wirken, an denen die Farbe des Bildes herabrinnt und herabtropft und sich dabei zauberisch irisierend zu zerlegen scheint, als wolle sie uns die ihr innewohnenden Kräfte demonstrieren.

 

Ob feine Präzisionsmalerei wie in den genannten „Roten Bildern“, ob auflockernde haptische Spontaneffekte wie hier – die farbigen Flächen da wie dort sind alles andere als monoton monochrom. Sieht man nicht die Farbe förmlich atmen, als ginge ein Hauch über die Fläche, der sie hier zart zu verschatten, dort fein zu erhellen scheint? Und wie kommt es, dass diese Bilder nach und nach eine tiefe Ruhe in den Betrachter senken, dazu angetan, zu meditieren, nachzudenken oder – gar nicht zu denken, sondern nur zu schauen? Weil es Gegenbilder sind, wie der Maler selbst sie zuweilen apostrophiert, Inbilder einer Weltsicht aus dem Geist der Kunst, der die Wirklichkeit nicht ignoriert, aber transformiert. Und scheint sie paradoxerweise gerade dadurch nicht ein wenig freier und begreifbarer?

 

Zwar bahnt sich in neuerer Zeit offensichtlich eine Wiederkehr der gegenständlichen, figurativen, inhaltsbezogenen Malweise an. Doch die Autonomie der Malerei jenseits dieser Kategorien, die vor einem halben Jahrhundert mit den asketischen Farbflächen der amerikanischen Malkunst um Barnett Newman begann, ist nicht mehr aus der Welt zu denken. Und Manfred Mayerle gehört zu einem ihrer wichtigsten und vielseitigsten Exponenten im heutigen Deutschland.

 

Seine Inbilder sind abbildlos, aber deshalb keineswegs inhaltlos. Ihr Inhalt ist der Farbkörper und seine Energien und Schichtungen, der Farbklang und seine Harmonien und Disharmonien, der stumme und doch so intensive Dialog der Farben untereinander. Angesichts der plappernden laufenden Medienprodukte, denen wir beständig ausgesetzt sind, wirken seine schweigsamen Bilder an der Grenze des Sagbaren gleichsam als Ikonen der Verinnerlichung. Dabei an Goethes Deutung der Farben als „Taten und Leiden des Lichts“ zu denken, drängt sich förmlich auf.

 

 

 

 

 

 

 

HOLGER SCHNITGERHANS
ARBEITEN AUF BÜTTEN
JULI 2006

 

 

Die hier versammelten Farbtafeln bezeichnet Manfred Mayerle als eine eigene Werkgruppe innerhalb seiner bildnerischen Arbeiten der letzten Jahre. Die Geschichte dieser Arbeiten begann vor drei Jahren in Barcelona, wo der Künstler beim Stöbern in einem Laden einen Stapel von handgeschöpftem Bütten entdeckte. Er kaufte den ganzen Vorrat – genau 24 Stück – des rauen Papiers, dessen fransige Kanten, Struktur und Gewicht wie ein Produkt aus längst vergangenen Zeiten erschien und über dessen Herkunft der Händler nur ungenaues Wissen hatte.

 

Im Sommer 2006 machte Mayerle sich in seinem mallorquinischen Atelier daran, die Beute aus Barcelona seinem farbbildnerischen Prozess zu unterziehen. Doch anders als bei Arbeiten auf Leinwand, forderte das eigenwillige Material dem Künstler ein Geduld forderndes tägliches Ritual ab. „Eigentlich müsste es statt Arbeiten auf Papier, Arbeiten in Papier heißen“, sagt Mayerle über den zeitaufwendigen Entstehungsprozess, an dessen Ende das ohnehin dicke Bütten sich zu einem brettartigen Relief verdichtet zeigt.

 

Wie von Naturvölkern bemalte Tierhäute oder Baumrinden wirken die archaisch anmutenden Objekte: unregelmäßig, ausfransend, von wuchtiger Farbigkeit. Fetischgleich, von bestechender Klarheit, durchwoben von Mitteilungen über den Entstehungsprozess. Die im Hochformat querlaufende Mittelachsigkeit betont den durchgehenden Strom von Botschaften über Farbverläufe und Farbverteilungen, die unter den vielen Lasuren liegen. Wie sich an den Jahresringen der Bäume deren Alter ablesen lässt, so erkennen wir an diesen Arbeiten, stenogrammartig verdichtet, die Entstehungsgeschichte der einzelnen Stücke.

 

Über den künstlerischen Prozess ist damit noch wenig gesagt. Wann Manfred Mayerle wie welche Farben zueinander ordnet oder in Kontrast setzt, mit welchen Farbpigmenten er dem Acryl zu noch mehr Leuchtkraft verhilft und vor allem warum er dies so und nicht ganz anders macht, dazu kann der Künstler bereitwillig Auskunft geben. Doch das sagt wenig über die kreative Arbeit, über spontane Entscheidungen im steten Strom der Zeit.

 

Deshalb sind Manfred Mayerles machtvolle Farbtafeln eher Meditationsobjekte, bei deren Betrachten sich Vergangenheit und pulsierendes Leben in einem Augenblick verdichten.