JOCHEN MEISTER
DIE NÜRNBERGER LEINWÄNDE VON MANFRED MAYERLE
JUNI 1999
Was geschieht in einem Vortragssaal? Als Manfred Mayerle für das Auditorium maximum des neuerrichteten Fachhochschulbaus in Nürnberg seine Leinwände schuf, hat er sich mit der Wirkung und Wahrnehmung seines Bildobjekts in diesem Raum intensiv auseinandergesetzt. Die Malerei schließt den durch die ansteigenden Sitzreihen konkav gekrümmten Saal ab; sie steht dem Publikum gegenüber, vortragende Personen hinterfangend. Wer zuhört sieht zugleich die großen Leinwände, die aus vier aneinandergfügten Rechtecken bestehen und zusammen etwa 16 Meter lang und vier Meter hoch sind. Von einem hellen Oberlicht beleuchtet, geben sie einen tiefen farblichen Akkord zum Raum hin ab, in dem unzählige Farbschichten in Blau kulminieren. Vergleichbar einem Wasserspiegel scheinen sie jedoch zugleich den Blick in die Tiefe zu gestatten. Warme Rottöne modulieren an manchen Stellen den blauen Farbkörper; die vielen verschiedenen untenliegenden Schichten sind an seiner Oberfläche spürbar.
Immer wieder ziehen Partien die Aufmerksamkeit des wandernden Blicks auf sich, fixieren ihn um schließlich seine Passage in andere Zonen zu ermöglichen. Oben und unten führen helle Streifen über alle vier Tafeln und verklammern sie optisch miteinander, die Wölbung des Raums mit ihrer eigenen leichten Krümmung zum gestreckten Oval kommentierend. Die Oberfläche lebt durch den vertikalen Duktus des Gießens, Bürstens und Walzens der Farbmassen. Die vertikale Bewegung dieser bildnerischen Vorgänge erinnert an die aufgerichtete menschliche Figur, deren elementare räumliche Erfahrung die Horizontlinie ist.
Die Zuhörenden erfahren im Vortrag zeitliche Dauer. Gleiches sollen ihre Augen erspüren: eine dauerhafte Malerei die nicht schnelle Effekte sucht, sondern die wie der Zauberkrug im Märchen unerschöpflicher Quell sein will. Rednerin oder Redner stehen im Bild. Durch die Raumbeziehung geben die Leinwände einen visuellen Resonanzkörper ab, der sie mit dem Publikum verbindet.
Blau – die Wahl dieser Farbe zum Abschluss des langwierigen malerischen Entstehungsprozesses kommt nicht von ungefähr. Mit Goethes Farbenlehre im Hintergrund schrieb Wassily Kandinsky 1912 in seinem Buch “Über das Geistige in der Kunst”: Im Allgemeinen ist also die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluss auf die Seele auszuüben.” Blau spielt dabei eine besondere Rolle. Es ist die Farbe des Geistigen, der reinen Idee und der Aufklärung, aber auch der Sehnsucht der Romantiker. Es ist die Farbe der Würde und damit verbunden der Dauer. Moduliert in der vielschichtigen Malerei Manfred Mayerles konzentrieren sich die Aspekte des Blau auf die Verbindung zum Ort und zur Zeit, in denen sie wirken. Kein fernes, entschwindendes Blau, sondern ein gegenwärtiges steht vor uns. Das mit der Farbe assoziierte Transzendente bleibt greifbar und konkret für einen wachen Blick.